無 Wu – die Bedeutung der Leere, des Leer-Seins und des Leer-Werdens im Qigong und in den Bewegungstraditionen mit daoistischer Orientierung

Glass - halb leer, halb voll

Damit Bewegungen und Haltungen voll werden können, müssen sie zunächst einmal leer werden. Es ist bekannt, dass dem Sichbefreien von Ballast, der sich im Laufe der Sozialisation und des bisherigen Lebens in einem innerlich angesammelt hat, sowie dem Sichentleeren und dem Loslassen generell im Daoismus immer wieder Beachtung geschenkt werden. Deshalb gibt es im Daoismus, genau gesagt bei Zhuangzi, im Zusammenhang mit der Rückkehr zu mehr Ursprünglichkeit (樸素 pu su, 真 zhen) und meditativen Praktiken diesbezüglich bezeichnenderweise den Begriff „sitzen und vergessen“ (坐忘 zuo wang).

Das nicht Anhaften bezieht sich natürlich auch auf das eigene Selbstbild. Das Motto ist, nicht an einer Illusion des Selbst festhalten – keine fixe, eng umfasste und definitive Definition der eigenen Person, an der man festhält, die das Selbst vom Ganzen isoliert und zu Überheblichkeit und Eitelkeit führt (無己 wu ji: „至人無己。神人無功。聖人無名。“ 莊子《逍遙遊》) Bei der Vorstellung, ein Teil des Ganzen zu sein bzw. es wieder mehr zu werden, geht es nicht um eine Verneinung von Individualität, sondern um das Stärken einer Individualität, die optimal integriert ist. Im daoistischen Blick ist immer das kollektive Wissen sowie das Schöpfen aus diesem und aus den kollektiven Fähigkeiten – Fähigkeiten, die individuelle Fähigkeiten bei Weitem übersteigen.

Immer wenn man etwas tut, was bestimmte Fähigkeiten besonders entwickelt – jedenfalls höher als die des eigenen Umfeldes -, wird parallel die Vermeidung eines Aufblähens des Ego (無己 wu ji) besonders wichtig. Wenn man daoistische Methoden praktiziert, wird dem viel Beachtung geschenkt, denn das Selbst besitzt unglaubliches Entwicklungspotenzial und enorme Ausdrucksmöglichkeiten – vor allem je stärker integrative Fähigkeiten ausgeprägt werden. Das kann sich allerdings auf sehr unterschiedlichen Niveaus abspielen.

Das Leer-Sein/Leer-Werden wird im Daoismus sehr komplex verstanden und findet natürlich u. a. auch im Bewegungsbereich Anwendung. Wenn man beispielsweise daoistische oder daoistisch-orientierte Bewegungsübungen ausführt, bedeutet es, dass man Bewegungen zwar möglicherweise zunächst willentlich initiiert und sich an gewissen formalen Kriterien der Bewegungsabläufe orientiert. Wer eine traditionelle chinesische Kampfkunst betreibt, kennt den Begriff der Form (拳套 、套路 、招式) und das Üben der Form(en). Es bedeutet aber auch, dass man es dann in einem daoistischen Kontext mehr und mehr den Bewegungen und dem ganzen Körper selbst überlässt, wie sich Bewegungen entfalten und weiterentwickeln, und dass der Geist dann in zunehmendem Maße die Rolle eines Beobachters und die eines „Gesprächspartners“ übernimmt, der sich von den kommunikativen Prozessen seinerseits inspirieren lässt – und nicht die Rolle eines autoritären „Herrschers“ übernimmt, der dem Körper Bewegungen aufzwingt und ablehnende Haltungen brutal ignoriert.

Das Daodejing und der Zhuangzi sind Schriften aus einer Zeit, in der es normal war, dass es einen „Sohn des Himmels“ gab, Könige, Fürsten, Edelleute. Und das, was man in der Außenwelt wahrnahm, beispielsweise in der Natur Sternbilder oder Planetenumlaufbahnen oder eben im menschlichen Leben Formen der gesellschaftlichen Organisation, wurde in der Betrachtung und Organisation des Körpers und körperlicher Praktiken reproduziert. Siehe etwa folgende Stelle aus Kapitel 26 im Daodejing: „Das Schwere ist die Wurzel des Leichten. Ruhe/Stille ist das Oberhaupt/der Fürst der Unruhe.“( „重為輕根。靜為躁君。“) Man kehrt immer wieder zur bereits erwähnten Verwobenheit von Makrokosmos und Mikrokosmos zurück.

Da es im alten China autoritäre politische und familiäre Strukturen in ausgeprägter Form gab, gibt es seit früher Zeit daher auch autoritäre und harte Methoden der Körperarbeit, die u. a. an Schmerzgrenzen gehen und darüber hinaus. Teilweise sind sie geprägt vom Konfuzianismus und einer autoritären Vaterfigur als Modell. An diesem Modell orientierte Übungsmethoden und Stile haben es zusätzlich oft noch stark übertrieben (und Sicherheitsmechanismen innerhalb des konfuzianischen Denkens zur Vermeidung von Machtmissbrauch ignoriert). Auch wenn, zumindest in China, der Konfuzianismus offiziell keine Rolle mehr spielt, sind Auswirkungen, vor allem leider auch in negativer Hinsicht, allseits präsent. Autoritäre Übungs- und Unterrichtsweisen waren und sind weiterhin weit verbreitet. Demgemäß fand/findet man in vielen chinesischen Schulen der Körperarbeit auch die Ansicht, dass dem, was ein Lehrer / eine Lehrerin (zur Vermeidung des belasteten Begriffs Meister/Meisterin) sagt, absolute Autorität zukommt und dementsprechend befolgt werden muss. Diese Art der Lehrer-Schüler-Beziehung läuft dem Daodejing durch und durch konträr entgegen – ganz gleich wie auch immer sich der Stil / die Methode betitelt.

Das zentrale Modell des Leitens/Führens im Daodejing sind die Menschen des Einklangs (聖人 sheng ren). Diese haben mit autoritären Führungsformen überhaupt nichts zu tun. Zentral für deren Führungsstil sind Selbstbestimmung und Selbstorganisation und die Unterstützung der geführten/geleiteten Personen auf dem Weg dorthin. (Daodejing, Kapitel 57: 自化、自正、自樸) Weder in der eigenen Praxis im Umgang mit sich selbst noch in der Lehrer-Schüler-Beziehung sind demgemäß ego-zentrierte und autoritäre Organisationsformen Teil dieser Tradition.