
Die Form ist eine große Hilfe auf dem Weg zur Formlosigkeit – zu dem, was hinter einer Form steht und ihr eigentlich erst Leben einhaucht. In den Formen steckt sehr viel Wissen. Dieses Wissen ist andererseits jedoch nicht abhängig von einer bestimmten Form.
Formen sind deshalb so hilfreich, weil man durch die hohen Wiederholungszahlen mit ihnen (grundlegende) Konzepte einer Tradition deutlich einfacher und tiefer verstehen lernen kann. In meinem Fall interessiert mich seit mehreren Jahrzehnten vor allem die daoistische Tradition und hier vor allem der erste und zentrale Text dieser Tradition, das Daodejing und sein Weltbild.
Andererseits sollte man Formen aber auch nicht überschätzen. Auf diese Thematik stieß ich kürzlich wieder im Unterricht. Wenn man eine neue Methode lernt, gibt es ja verschiedene Möglichkeiten, sich der Form-Thematik zu nähern.
Ich wollte mittels unterschiedlicher Übungen zunächst mehr Zeit damit verbringen, das Gespür für das Pulsieren, Verbinden und das „innere Lächeln“ (內笑) zu wecken, da diese die innere Bewegungsessenz vieler Methoden darstellen. Mir ist dies mittlerweile im Grunde genommen wichtiger, bevor ich den eigentlichen Formenablauf vermittle.
Oft trifft man auf Ungeduld, weil jemand glaubt, dass sich alles Weitere von alleine findet, wenn man erst einmal den Formenablauf (grob) „beherrscht“.
Wenn man allerdings bei den inneren Traditionen die eigentliche Essenz und die feinmotorischen inneren Bewegungen nicht kennt, ausführen kann und beständig praktiziert, kann man eine Form auch 10.000-mal durchlaufen, ohne dass sich tatsächlich etwas tiefgreifend bewegt. Deshalb erachte ich es für sinnvoll, zunächst ein klares Gespür für das Pulsieren und Verbinden zu erlangen und den Formenablauf erst dann Stück für Stück in kleineren Dosen zu sich zu nehmen. Denn das Verbinden ist zentral für das ganze Leben – zwar einfach in Worte zu fassen, ansonsten jedoch oft erst mit erheblichem Aufwand auch nur anfänglich umzusetzen.
Auf welche Weise man sich allerdings in ein System hineinbegibt, hängt sehr von der eigenen Persönlichkeit ab. Da gibt es auch nicht wirklich ein Richtig oder Falsch. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten der Annäherung: Entweder fokussiert man sich anfänglich länger auf die zunächst noch inhaltsleere Form oder man erarbeitet sich zuerst ein Gespür für die innere Arbeit und beschäftigt sich dann erst intensiver mit der Form und erkundet die darin mögliche Tiefe. Mir persönlich ist mittlerweile der zweite Weg näher, da viel des heilenden Wissens, das in einzelnen Bewegungen einer Form weitergetragen wird, ohnehin erst zugänglich wird, wenn ich das in ihnen schlummernde Wissen wie einen Schlüssel nutzen kann, um die Bewegungen aufzuschließen. Die Bewegungen daoistischer und buddhistischer Bewegungsmethoden enthalten neben philosophischen und spirituellen Konzepten oft tiefes medizinisches und heilendes Wissen, das erst unter bestimmten Vorbedingungen seine volle Wirkung entfaltet.
Es geht in einem daoistischen oder buddhistischen Kontext nicht primär darum, in einem eng gefassten Bereich eine Meisterschaft zu erlangen oder besondere Fähigkeiten zu erwerben, sondern darum, auf schrittweise mehr Ebenen heilende Wirkungen freizusetzen. Entscheidender als die Fähigkeit, das Pulsieren, Verbinden und das „innere Lächeln“ in einer Form umsetzen zu können, ist es deshalb letztlich, sie in den normalen Alltag einzubauen, dort täglich zu praktizieren und damit zu einer gewissen Formlosigkeit zu gelangen. Das Pulsieren und Verbinden sind etwas, das man ja bereits in den Formen auf sehr unterschiedlichen Ebenen und Niveaus entwickeln kann. Sie dort zu erfahren, ist wie eine Vielzahl von Hinweisschildern auf dem Weg des Lebens.
Formen haben in unterschiedlichen Bereichen auch unterschiedliche Bedeutungen: In einer Kampfkunst liegt der Fokus auf der Fähigkeit, kämpfen zu können. Beim modernen Qigong liegt der Fokus auf körperlicher Gesundheit und darauf, ruhig zu werden im Chaos des Alltags. Bei tiefen daoistischen und buddhistischen Bewegungspraktiken geht es ganz allgemein darum, Dinge für das Leben zu lernen, sich als Mensch konstruktiv zu entwickeln und gemäß der jeweiligen Praktik zusätzlich beispielsweise auch noch spezifische gesundheitsfördernde und heilende Wirkungen zu erzielen.