
Bevor ich auf die konkrete Thematik des heutigen Blogbeitrags eingehe, zunächst etwas zu meinen Blogbeiträgen ganz allgemein: Für diejenigen unter den Lesern, die mich schon längere Zeit begleiten, sind viele der daoistischen Konzepte, über die ich schreibe, bereits vertrautes Gedankengut. Allerdings scheint man manches andererseits „tausend Male“ hören zu müssen, um es das erste Mal wirklich hören zu können. Man kann dies an sich selbst erfahren, es ist aber auch eine wichtige Erkenntnis für das eigene Unterrichten.
Meine Blogbeiträge werden zudem auch ebenso wenig chronologisch systematisch sein wie die im Daodejing präsentierten Konzepte. Bei der von diesem Blog aufgegriffenen Thematik handelt es sich eben nicht um eine „lineare“ Thematik. Die besprochenen Konzepte sind komplex miteinander verwoben und weder in einem linearen Nacheinander zu verstehen noch linear umsetzbar. Deshalb ist es auch nicht so, dass man sie, auf einem höheren Niveau angelangt, irgendwann einmal als erledigt abhaken kann. Das macht sie ja aber auch so interessant. Je länger man sich mit diesen scheinbar simplen Konzepten beschäftigt, desto tiefer und komplexer scheinen sie zu werden und desto vielfältiger und faszinierender die Anwendungsmöglichkeiten. Die Bedeutung, die die Blogbeiträge für die eigene Praxis haben können, ändert sich dementsprechend deshalb auch nach dem eigenen jeweiligen Standort. Dies ist engstens mit der Natur der daoistischen Philosophie verbunden.
In der Philosophie des Daodejing setzt man nicht alleine den Intellekt ein, um philosophischen Fragestellungen nachzugehen, sondern das komplette Spektrum, das einem Menschen zur Verfügung steht. Hierzu gehören ja auch körperliche, emotionale und soziale Aspekte. Man beschränkt sich nicht auf den Kopf. Man denkt nicht alleine mit dem Kopf nach – wobei ja auch der Kopf ein Teil des Körpers ist. Der Körper ist in der daoistischen Philosophie als Referenzbereich integraler Bestandteil der Denkarbeit. Und auch der Körper ist (im menschlichen Leben) nicht isoliert und wird deshalb auch nicht isoliert betrachtet oder als isoliert behandelt. In die am Daodejing orientierte Körperarbeit und ihre Auseinandersetzung mit Bewegung ist deshalb das Nachdenken und die Förderung emotionaler und sozialer Intelligenz immer integriert – eine Lebensaufgabe.

Und das bringt uns nun zum eigentlichen Thema dieses Blogbeitrags zu Yangsheng (養生), der Pflege des Lebens und all den daoistischen Methoden und Übungen, in denen es (auch) um das Nähren der Lebendigkeit geht. Allzu oft werden die Übungen zur Pflege des Lebens als Gesundheitsübungen in einem engen Sinne betrachtet. Die Pflege des Lebens und die daoistischen Übungsmethoden, die heute häufig als Qigong bezeichnet werden, sind jedoch weitaus tiefer und komplexer.
Sie sind ursprünglich an den Zyklen der Natur (DDJ 25 – 人法地) und der Fürsorge für den Nachwuchs (DDJ 51 – 道母生育畜養) und damit die Sicherung der Arten im Tierreich orientiert. Es geht nicht um enge, individualistische Ziele, sondern immer um das gesunde, nährende Agieren des Einzelnen im Netz des Lebens, im Ganzen und für das Ganze.
Mikrokosmos und Makrokosmos sind untrennbar miteinander verwoben. Die Arbeit im „Außen“ bedarf immer der Arbeit im „Innern“, gewissermaßen als eine Art Spiegelung der Erfahrungen an und mit der körperlichen Basis. Aus der daoistischen Perspektive würde deshalb beispielsweise jede Arbeit im Bereich Nachhaltigkeit und in der Umweltbewegung oder Berufsfeldern, in denen nicht das Eigeninteresse oder Profit, sondern das Gemeinwohl an erster Stelle stehen, sinnvollerweise angebunden sein an eine körperliche Praxis.
Im daoistischen Blickfeld liegt das endlose Korrespondieren, die Verwobenheit von innen und außen. Die Erfahrungen, die man in der körperlichen Praxis sammelt, dienen als Analogien für den Umgang mit Prozessen im engeren und weiten Lebensumfeld. In diesem Sinne geht es im Daodejing und den sich damit als verbunden betrachtenden Bewegungsmethoden ursprünglich um heilende Wege in einem sehr weiten Sinne. Im Daodejing gibt es anders als im Zhuangzi einen gesellschaftlichen Auftrag. Bei den konkreten am Daodejing als daoistischem „Urtext“ orientierten Yangsheng-Praktiken geht es aus diesem Grund zwar beispielsweise auch um individuelle Gesundheit und damit um die Stärkung der inneren Organe und die Kräftigung des Bewegungsapparates, aber eben nicht ausschließlich.
In den Bewegungspraktiken ist die Verbesserung der Körper-, vor allem der Hand-Fußkoordination in diesem Sinne natürlich auch konkret spürbar als Steigerung körperlicher Kraft. Die Verbesserung der Verbindung zur Erde (栽根功) und die Aufrichtung und Ausrichtung am Himmel (天地人) durch ein Pulsieren in die beiden genannten gegensätzlichen Richtungen, also das freie parallele Senden von Impulsen nach unten und nach oben ist ein elementarer Bestandteil der Bewegungspraxis, da jede einzelne Bewegung dadurch (durch dieses sich permanent Verbinden) getragen wird. Kraft und das Gefühl getragen zu werden entstehen in den daoistischen Bewegungstraditionen genau durch das Einswerden mit „Himmel und Erde“ (天地人). Und das Einswerden/-sein ist im Daodejing mit Verantwortung verbunden (聖人). Gesundheit und Kraft zielen nie auf Macht.
Gleichermaßen ist aus den oben genannten Gründen stets auch der konstruktive (nährende) Umgang mit persönlichen Verletzungen sowie der Umgang mit Aggression und Hass im Blickfeld (der soziale Faktor), also mit emotionalen Spuren, die sich natürlich bio-chemisch und hormonell nicht nur in den Organen niedergeschlagen haben. Das sogenannte innere Lächeln, der freundliche und fürsorgliche Blick nach innen und nach außen etc. (面帶微笑) bietet deshalb die energetische Grundlage für nach innen wie nach außen gerichtete konstruktive Prozesse, ist also eine Methode, eine Grundhaltung zu etablieren, die nicht nur für die eigene Person heilsam wirkt, sondern allgemein für das Agieren in der Welt sinnstiftend ist. Abgesehen vom Wissen der Daoisten um das energetische Netzwerk der Akupunkturfelder und den sehr spezifischen medizinischen Kenntnissen, die in den Praktiken des Yangsheng ebenfalls ihre Umsetzung erfahren, finden also auch Mimik, Gestik, Rhythmik der Bewegungen (和) und Körpersprache allgemein in diesem sehr weiten Kontext gezielten Einsatz. Es geht darum, alles zusammenzubringen, alles auf „eins“ zu bringen („一“). All dies ist natürlich ein viel aufwendigerer Prozess als der einer lediglich auf die Verbesserung des eigenen körperlichen Wohlbefindens eingeengten Herangehensweise – selbst, wenn diese für sich genommen natürlich bereits zahlreiche Vorteile mit sich bringt und auch oft keinen geringen Aufwand darstellt.
Der Anfang über einen ganz konkreten sehr körperbetonten Weg wie dem des Yangsheng ist der Einstieg in eine endlose, weite Welt – ein typisch daoistischer Weg.