Das Universum, die Erde, die Menschen

Das Universum, die Erde, die Menschen

Im Allgemeinen wird 天地人 einfach als Himmel, Erde, Mensch übersetzt. In meiner Wahrnehmung daoistischer Philosophie gebe ich persönlich mittlerweile jedoch der Übersetzung als das Universum, die Erde, die Menschen den Vorzug. Im Kontext der Philosophie des Daodejing verweist 天 tian, Himmel auf die Welt der Sterne, das Universum und damit die größere Einheit, in der 地 di, die Erde lediglich einen kleinen Teil darstellt. In dem Konzept das Universum, die Erde, die Menschen sind wir Menschen nicht das Zentrum des Universums. Wir betrachten lediglich die Erde und das Universum aus unserer menschlichen Perspektive und für unsere menschliche Perspektive. Menschen sind wie andere lebendige Wesen und unbelebte Dinge Teil des Lebens auf der Erde. Die Erde ihrerseits ist wiederum lediglich ein kleines Teil in dieser endlosen Welt, die man einfach beobachten kann, wenn man einen sternenbedeckten Nachthimmel betrachtet. Dieses und natürlich viele andere Konzepte verbinden das Daodejing mit indigenen Weltvorstellungen. Ich erwähne dies in einem meiner vorherigen Blogbeiträge und empfehle dort das Lesen oder Hören von Robin Wall Kimmerers Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen (Braiding Sweetgrass: Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge, and the Teachings of Plants), um die Gedankenwelt des Daodejing diesbezüglich besser verstehen zu lernen.

In dem Konzept 天地人 das Universum, die Erde, die Menschen ist ganz offensichtlich die Welt des Makrokosmos sichtbar mit der Welt des Mikrokosmos verknüpft, sind Yin und Yang eingefasst in eine Einheit. Übrigens ist diese Sichtweise auch die Grundlage der Idee der Kultivierung innerer Landschaften, wie dies in der 內景圖 Karte innerer Landschaften dargestellt ist, und der Idee der Neuordnung innerer energetischer Konstellationen in dem Bewegungssegment 摘星換斗勢 einen Stern pflücken und das Sternbild ändern in der 少林易筋經 Shaolin-Methode zur Transformation der Sehnen.

Und eben wegen der unbestreitbaren Verknüpfung von Makrokosmos und Mikrokosmos stärkt man in jeder Bewegungspraxis, die das Daodejing als Wegweiser und Weggefährten hat, die Verbindung und das Band mit der Erde und dehnt sich in Richtung Universum. Solche Bewegungspraktiken spiegeln und stabilisieren die visuellen, anderen sensorischen und intellektuellen Erfahrungen, die im Daodejing dargelegt sind. Neben vielen anderen energetischen Knotenpunkten stellt man zunächst die Verbindung mit und zwischen dem 湧泉穴 Akupunkturpunkt sprudelnde Quelle auf der Fußsohle und dem 百會穴 Baihui, dem Akupunkturpunkt hundertfacher Zusammenfluss auf der Schädeldecke her, um dann über sie hinauszureichen. Beide Punkte sind energetisch betrachtet markante Öffnungen und Verbindungsbereiche zu dem, wovon der menschliche Körper ein Teil ist. Dies bedeutet, dass die interne Einheit immer mit der äußeren Einheit verknüpft ist.

Bewegungsmethoden, die auf daoistischer Philosophie fußen, konzentrieren sich deshalb nicht allein auf einen ausgewogenen Energiekreislauf im Körper zur Förderung der Gesundheit und ihnen geht es definitiv nicht um egozentrische Ziele oder Macht. Die körperliche Praxis zielt auf das Stärken des Bandes zwischen dem Selbst in all seinen Facetten und der ganzen Existenz. Solche eine Bewegungspraxis ist von daher auch nicht lediglich eine gewöhnliche körperliche Übungsmethode. Sie bezieht den emotionalen Bereich wie auch den Geist mit ein. Das innere Lächeln (面帶微笑) in diesen sogenannten inneren Praktiken bringt unsere Emotionen und unsere Persönlichkeit ins Gleichgewicht und überträgt sich in die Funktionstüchtigkeit unserer inneren Organe. Die körperliche Erfahrung einer zunehmenden und sich ausweitenden Einheit verstärkt ihrerseits wieder kontinuierlich die geistige Grundhaltung, die diese Praktiken ins Leben gerufen haben.

Eine Frage, die mir kürzlich in einem Seminar gestellt wurde über das selektive Herauspicken bevorzugter Elemente aus ausgewogenen kompletten traditionellen Bewegungsmethoden passt gut zur Thematik dieses Blogbeitrages. Diese selektive Herangehensweise entstammt allzu oft einer geistigen Grundhaltung, die mehr den Fokus auf individuelle Wahlmöglichkeiten und Segmente legt als auf den Netzwerkmodus des Seins. Bei einer alten daoistischen Bewegungsmethode wie der 五行功 Fünf Wandlungsphasenmethode, deren Ziel es ist, ein Gleichgewicht des komplexen ganzheitlichen Funktionierens der inneren Organe wiederzuerlangen oder es zu stärken, macht es im Allgemeinen nicht viel Sinn, sich eine Sequenz herauszupicken, die einem besonders zusagt, die anderen Sequenzen in diesem Netzwerk zu vernachlässigen und dann eine herausgenommene Sequenz isoliert zu praktizieren. Bei einer alten medizinischen Bewegungstradition, in der es um das ganze innere Funktionieren des Körpers geht, ist eine ganzheitliche Herangehensweise zentrales Gestaltungselement. Wenn eine besondere oder akute Problematik etwa bei der Verdauung oder den Atemwegen besteht, ergibt eine “isolierte” Praxis Sinn zusätzlich zum Üben der kompletten 五行功 Fünf-Wandlungsphasenmethode. Andernfalls entgehen einem durch das selektive Herauspicken eines Elementes die Vorteile einer ganzheitlichen Übungspraxis auf verschiedenen Ebenen: Körperlich unterstützt man auf diese Weise durch das Vernachlässigen der Unterstützungsfunktion der anderen Aspekte lediglich einen Aspekt im komplexen Zusammenspiel des gesamten Körpers. Emotional entfernt man sich von der Erfahrung der komplexen Vernetzung. Mental verstärkt man durch das Vernachlässigen des Ganzen eine Geisteshaltung des Individualismus, der Trennung und des Getrenntseins.

Man kann es nicht überbetonen: Der primäre Fokus der Philosophie des Daodejing und jeglicher tiefergehend mit ihr verknüpfter Bewegungspraxis ist nicht das Erlangen irgendwelcher besonderer Fähigkeiten. Der primäre Fokus liegt auf der Fähigkeit des Verbindens.